Orlando - eine Biographie by Insel Verlag

Orlando - eine Biographie by Insel Verlag

Autor:Insel Verlag [Verlag, Insel]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2014-11-01T04:00:00+00:00


Und während sie fuhr, können wir – da es sich um eine schlichte englische Landschaft handelt, die keine Schilderung erfordert – die Gelegenheit wahrnehmen und die Aufmerksamkeit des Lesers nachdrücklicher, als es uns zum entsprechenden Zeitpunkt möglich gewesen wäre, auf einzelne Bemerkungen richten, die im Verlauf des Berichts hie und da unmerklich in ihn hineingeraten sind. Beispielsweise dürfte aufgefallen sein, dass Orlando ihre Manuskripte versteckte, wenn sie überrascht wurde. Und auch dass sie lange und aufmerksam in den Spiegel sah; und nun, als sie nach London fuhr, hätte einem auffallen können, dass sie zusammenzuckte und einen Aufschrei unterdrückte, als die Pferde schneller galoppierten, als ihr recht war. Ihre Bescheidenheit angesichts des eigenen Schreibens, ihre Eitelkeit ob der eigenen Person, ihre Furcht um die eigene Sicherheit scheinen allesamt anzudeuten, dass das, was vor kurzem über die unveränderte Gleichheit von Orlando dem Mann und Orlando der Frau gesagt worden war, allmählich seine Gültigkeit verlor. Inzwischen wurde sie etwas bescheidener, was ihren Verstand betraf, wie bei Frauen üblich, und etwas eitler, was ihre Person betraf, wie bei Frauen üblich. Für manches wurde sie empfindsamer, für anderes weniger empfindsam. Großen Einfluss darauf hatte – wie manche Philosophen behaupten würden – der Kleiderwechsel. Die Kleider, mögen sie als noch so eitle Nebensächlichkeiten erscheinen, haben ihnen zufolge wichtigere Aufgaben zu erfüllen, als uns lediglich zu wärmen. Sie verändern unsere Sicht auf die Welt und die Sicht der Welt auf uns. Als beispielsweise Kapitän Bartolus Orlandos Rock sah, ließ er sogleich eine Markise für sie anbringen, drängte er sie, noch eine Scheibe Rindfleisch zu nehmen, und lud er sie ein, in seiner Begleitung im Langboot an Land zu fahren. Diese Artigkeiten wären ihr zweifellos nicht zuteilgeworden, wenn ihre Röcke sich nicht gebauscht hätten, sondern wie Kniehosen eng an ihren Beinen entlanggeschnitten gewesen wären. Und wenn man uns Artigkeiten erweist, sind wir gehalten, sie zu erwidern. Orlando knickste; sie gab nach; sie kam den Launen des guten Mannes entgegen, wie sie es nicht getan hätte, wären seine adretten Kniehosen ein Frauenrock gewesen und sein betresster Überrock das Satinmieder einer Frau. Somit spricht nicht wenig für die Ansicht, dass die Kleider uns tragen und nicht etwa wir sie; wir mögen ihnen die Form von Arm oder Brust verleihen, sie aber formen unsere Herzen, unsere Hirne, unsere Zungen nach eigenem Ermessen. Und da Orlando inzwischen seit geraumer Weile Weiberröcke trug, machte sich eine gewisse Veränderung an ihr bemerkbar, die ersichtlich ist, wenn die Leser einen Blick auf Abbildung 5 werfen, ersichtlich sogar in ihrem Gesicht. Wenn wir das Bild Orlandos als Mann mit dem Orlandos als Frau vergleichen, werden wir sehen, dass beide zwar unzweifelhaft ein und dieselbe Person sind, aber dennoch gewisse Unterschiede aufweisen. Der Mann hat die Hand frei, um zu seinem Degen zu greifen, die Frau muss ihre benutzen, um zu verhindern, dass der Satin ihr von den Schultern rutscht. Der Mann blickt der Welt frank und frei ins Gesicht, als wäre sie zu seinem Gebrauch geschaffen und nach seinem Gefallen eingerichtet. Die Frau wirft ihr einen schrägen Blick zu, einen überaus subtilen, vielleicht sogar argwöhnischen Blick.



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